12. Januar 2023

Irene Neff-Streule - Barfuss in die Schule?

Mein Vater wäre als junger Mann gerne Tierarzt geworden. Das Geld reichte nicht für die Ausbildung. Die Aussicht auf Kuhherden im Appenzellerland genügte ihm nicht. So verdingte er sich als Begleiter schweizerischer Kühe nach Venezuela. Ein ganzes Jahr lang musste er mit der Herde auf einer kleinen Insel vor der Küste in Quarantäne bleiben.

Seine Kenntnisse in der Tierbetreuung erlaubten ihm den beruflichen Aufstieg. Er wurde Verwalter auf dem Hof eines gelähmten Venezolaners. So konnte er bei einem Landsgemeindebesuch meine Mutter überzeugen, ihm zu folgen. Sie bezogen drei Zimmer im grossen Farmgebäude und nach und nach kamen drei Kinder zur Welt.

Da das Haus von vielen weiteren Angestellten bewohnt war, sprachen die Eltern nur spanisch mit den Kindern, so dass sie bei Besuchen in der Schweiz die Verwandten nicht verstanden. Dafür gab es keinen Sprachgraben in Venezuela. Alle drei Kinder besuchten private Klosterschulen in der nächsten Stadt mit einer stündigen Anfahrt.

Im eingezäunten Gelände gab es keine wilden Tiere mit einer Ausnahme - Schlangen. So trugen alle immer Gummistiefel. Irene war entsetzt, als sie in der Steinegg feststellen musste, dass die Kinder barfuss zu Schule kamen. Sie liebten es, mit den kleinen venezolanischen Pferden auszureiten, jedoch fand Irene die hohen Pferde in der Schweiz zu gefährlich.

Auf Besuchen in der Schweiz wohnten sie im Haus das der Vater gekauft hatte und das an Feriengäste ausgemietet wurde. Es war mit Geranien geschmückt. Als Irene fragte warum, erhielt sie die Antwort: "S’isch wäg de Kugäscht." Erst viel später realisierte sie, dass natürlich damit Kurgäste gemeint waren.

Die Familie kehrte ins Appenzellerland zurück als Irene dreizehn Jahre alt war. Sie wäre gern in die Sekundarschule gegangen, aber ihr fehlten die Deutschkenntnisse. Ihr Lehrer erkannte, dass sie intelligent war und nach einem Jahr durfte sie in die Sekundarschule. In dieser Zeit kam ihr zweiter Bruder zur Welt. Dem Vater gefiel es aber nicht in der Schweiz. So ging er nach Venezuela zurück. Die Mutter verbrachte jeweils sieben Monate mit dem Kleinkind dort und die drei Grossen wurden von Verwandten betreut. Als der Jüngste schulreif wurde, blieb der Vater in Venezuela und die restliche Familie lebte fortan in der Steinegg.

Irene besuchte das Lehrerseminar und schloss ein Studium in Deutsch und Spanisch ab. Neben der Familienarbeit unterrichtete sie am Gymnasium Appenzell und gab Spanischkurse bei der Erwachsenenbildung Appenzeller Mittelland. Heute gibt sie Privatkurse und unterstützt ihren Mann in seiner Arztpraxis. Sie ist begeisterte Grossmutter, Malerin und reist gern.

Text: Hanni Brogle | Fotos: Irene Neff-Streule

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Ich sitze auf einem kleinen venezolanischen Pferd
Unser Grossvater
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