13. Februar 2020
Kinderstube im Geschäft
31 Frauen lauschten Vreni Rüsch-Fitzi gebannt. Sie berichtete von ihren Eltern, Otto aus Gais und
Frieda aus Flawil, die sich in Heiden kennenlernten. Otto arbeitete in einer Metzgerei, Frieda im
Bärli. Die Chefin wollte sie mit ihrem Neffen verkuppeln, aber der hatte sich eben verlobt. 1939 kaufte
Otto Fitzi den Frohsinn in Speicher und modernisierte Geschäft und Wohnraum. So liess er
ein Badezimmer einbauen und die Familie musste die Toilette nicht mehr mit den Wirtshausgästen teilen.
Vreni kam als erstes Kind zur Welt.
Im ersten Stock waren die Wirtsstube und das Familienzimmer. Zum dritten Raum führte eine Schiebetüre.
So konnte man in Strumpfhosen im Gastraum Anlauf nehmen und bis nach hinten schlittern.
Strasse und Schiene führten damals in einer Kurve auf der anderen Seite des Hauses vorbei. Otto, der
Zweitgeborene war sehr an der Bahn interessiert und stellte sich in unbeobachteten Momenten gern
zwischen die Schienen, bis ihn ein Bähnler unzimperlich auf die Seite stellte und ihm diesen Spass
verbot. Es wirkte.
Nachbarn hatten ein Kriegskind aufgenommen. Man nannte ihn Bobo Berlinger. Die Schule allerdings
kannte ihn dann als Jean-Louis Popoff. Es gab verschiedene Kinder in der Nachbarschaft, mit welchen
man spielen, schlitteln und bäbelen konnte. In der Schule aber wurde Ruth Sturzenegger Vrenis liebste
Freundin, eine Verbindung welche ein ganzes Leben hielt. Der Vater brachte sie einmal mit Ruth, deren
Bruder Max und Otto auf die Schwägalp. Die Jugendlichen durften mit den Skis bis ins Aueli fahren.
Ruth konnte modisch immer mit der Zeit gehen, was für Vreni nicht so einfach war, aber sie erinnert
sich an ein wunderschönes hellblaues Kinderkleidchen mit gesmocktem Oberteil und „Flügeli“, das sie
zu einer Hochzeit erhielt. Gab’s zu Weihnachten z.B. eine Windjacke, durfte man sie in St. Gallen mit
verbundenen Augen anprobieren, damit die Überraschung gewahrt war.
Die Fitzi-Kinder mussten im Haushalt und im Betrieb helfen. Beim Fleischaustragen gab es oft einen Batzen.
Der gehörte ins Kässeli. Auch durfte man nicht einfach Salami oder Süssgetränke nehmen. Abschnitte
wie sie den jungen Kunden verschenkt wurden waren erlaubt.
Beim Abtrocknen hatte Vreni oft Bauchweh. Als die Mutter von einem tragischen Vorfall in Flawil hörte,
wurde eine Blinddarmoperation beschlossen. Vreneli stand also allein mit dem Köfferli vor dem Haus und
genoss die Fahrt nach Trogen im Auto des Hausarztes sehr. Im Kinderzimmer des Spitals war es lustig
und am 1. August hängten die Schwestern für jedes Kind einen Lampion auf.
Bruder Otto war zu Hause zur Welt gekommen. Da der Vater nicht noch einmal eine Hausgeburt miterleben
wollte, fuhr er seine Frau in die Frauenklinik nach St. Gallen. Eine Einladung der Schwester, doch
hereinzukommen, lehnte er dankend ab. Als die Nachricht kam, es sei ein Mädchen, sagte der sechsjährige
Bruder: „Hatten sie da bloss Mädchen feil?“ Zeitgemässe Aufklärung erhielt Vreni indem sie Gespräche
der Serviertöchter belauschte.
Vreni ging gern zur Schule. Sie mochte Fremdsprachen. Nach dem Schulabschluss half sie der Mutter und
besuchte die Fortbildungsschule. Dann begann das Aupairjahr in Lausanne. Sie war durch die Mithilfe zu
Hause eine kompetente Köchin und Bäckerin. Allerdings lebten die Piccards ein veraltetes Modell.
Vreni musste allein in der Küche essen. Der Fensterplatz dort gefiel ihr. Zur gleichen Zeit verbrachte
auch Ruth ein Jahr im Welschland.
Wieder zu Hause besuchte Vreni ein halbes Jahr die Handelsschule Hermes in St. Gallen und bekam eine
Stelle in einer Schokoladenfabrik. Sie genoss die Abendunterhaltungen mit dem Damenturnverein und die
Fasnacht im Café Etter.
1960 fuhren Ruth und sie für drei Monate nach Ramsgate um ihr Englisch zu verbessern. Dann verlangte
die Mutter, dass sie zu Hause mitarbeite und nicht schon wieder weggehe. Vreni erbat sich drei Monate
an der Hotelfachschule in Luzern, um den Beruf richtig zu erlernen. 1961 heiratete sie.
Der Neffe der Chefin im Bärli bekam nach dem Tod seiner Frau die ebenfalls verwitwete Frieda doch noch.
2009 verkaufte Otto den Frohsinn. Jetzt steht da der Neubau der Mobiliar.
Bericht: Hanni Brogle | Fotos: Heidi Preisig